Lesen gegen das Vergessen

Bundesweite Lesungen zum Gedenktag der Bücherverbrennung im Jahr 1933

Gütersloh macht mit!

Das Veranstaltungsformat „Lesen gegen das Vergessen“ wurde vom Fachbereich Kultur in Zusammenarbeit mit Kommunikationstrainerin und Stimmcoach Almuth Wessel nach dem Berliner Vorbild entwickelt und seit 2019 erfolgreich jährlich durchgeführt. Gelesen werden Texte von Autorinnen und Autoren, deren Schriften 1933 öffentlich verbrannt wurden. Verschiedene Themenschwerpunkte und Lesende vereint bei dieser Veranstaltung immer eines: die Wachhaltung und Ermahnung, die schrecklichen Ereignisse des Nationalsozialismus nie zu vergessen!

Lesen gegen das Vergessen 2024

Am 4. Mai ist es wieder so weit: „Lesen gegen das Vergessen“ erinnert zum 6. Mal an die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Texte rund um den 10. Mai 1933 der sog. Bücherverbrennung zum Opfer fielen. In diesem Jahr sind es Gedichte, Romanauszüge sowie Kurzgeschichten von Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Käthe Kollwitz, Alfred Polgar, Imre Kertész, Irmgard Keun, Jenny Aloni, Lidia Ginsburg und Mascha Kaléko, die auf dem Programm stehen. Gerahmt wird die Veranstaltung durch einen musikalischen Beitrag, Pfarrerin Erika Engelbrecht spricht das Friedensgebet. Die Veranstaltung ist kostenlos und ohne Anmeldung. Die Lesung findet in der Martin-Luther-Kirche statt, Beginn und Dauer: 11 Uhr-13 Uhr. Hier geht es zur Veranstaltung.

Lesen gegen das Vergessen 2023

Wenn Kanonen wichtiger werden als Schokolade
Zum 90. Gedenktag an die Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten ist in der Martin-Luther-Kirche zum fünften Mal „gegen das Vergessen“ gelesen worden

„Am 10. Mai 1933 fand in Berlin und in rund 21 anderen deutschen Universitätsstädten die Bücherverbrennung statt. Mit ‚Lesen gegen das Vergessen‘ soll der verbrannten und verfemten Schriften und deren Autorinnen und Autoren gedacht werden. Da wir heute in vielen Ländern weltweit immer noch zahlreiche Regelungen und Gesetze gegen eine solide Freiheit haben sowie Freiheit und Vielfalt im Grundsatz keine Selbstverständlichkeit sind, ist es umso wichtiger, sich hier und heute zu treffen, um zu erinnern. Aber auch, um in die Gegenwart und insbesondere in die Zukunft zu schauen!“ – Mit diesen Worten hat die zweite stellvertretende Gütersloher Bürgermeisterin Gitte Trostmann den historischen Anlass für das Veranstaltungsformat umrissen, das seit 2019 jährlich vom Fachbereich Kultur der Stadt Gütersloh in Kooperation mit Initiatorin Almuth Wessel und der Volkshochschule Gütersloh organisiert wird.

Musikalisch begleitete Sänger Patrick Lück die Veranstaltung in der Martin-Luther-Kirche. Bob Dylans „Blowin‘ In The Wind“, der archetypische Protestsong der Friedensbewegung am Anfang der 1960er Jahre, erklang zum Auftakt im Kirchenschiff. „Weil die Welt so ist, wie sie ist, finden hier in dieser Kirche seit gut einem Jahr immer samstagmittags um 12 Uhr Friedensgebete statt“, kündigte Erika Engelbrecht das Gebet im Mittelpunkt der Veranstaltung an. Die Pfarrerin räumte das Redepult, um Vertreterinnen von Kulturvereinen den Platz am Mikrofon zu überlassen.

Birgit Niemann-Hollatz zitierte den Schriftsteller Erich Maria Remarque: „Kantorek hielt uns in den Turnstunden so lange Vorträge, bis unsere Klasse unter seiner Führung geschlossen zum Bezirkskommando zog und sich meldete. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er uns durch seine Brillengläser anfunkelte und mit ergriffener Stimme fragte: Ihr geht doch mit, Kameraden?“ – Wer kennt ihn nicht, den 1928 verfassten Roman „Im Westen nichts Neues“, der die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus Sicht eines jungen Soldaten schildert. Obwohl Remarque selbst sein Werk als unpolitisch charakterisierte, avancierte es als Antikriegsroman zum Klassiker der Weltliteratur.  Bereits 1930 in Hollywood verfilmt, räumte sein deutsches Remake von Regisseur Edward Berger im März 2023 als bester internationaler Film, für die beste Filmmusik, für die beste Kamera und das beste Szenenbild vier Oscars ab. Damals im Nazi-Deutschland hatte die Oberprüfstelle den Film wegen „Herabsetzung deutschen Ansehens im Ausland“ verboten. Als 1933 die Bücher brannten, waren auch Exemplare von „Im Westen nichts Neues“ dabei. Der Roman galt als schädliches und unerwünschtes Schrifttum.

Das gleiche Urteil ereilte auch den Schriftsteller Erich Kästner, der zeitlose Kinderbuchklassiker wie „Emil und die Detektive (1929)“, „Pünktchen und Anton (1931)“ und „Das fliegende Klassenzimmer (1933)“ verfasst hat. Seine publizistische Karriere begann während der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten und Essays. Nach Beginn der nationalsozialistischen Diktatur rückten seine Werke auf den Index der als „undeutsch“ diskreditierten Bücher und wurden im Herrschaftsbereich des NS-Regimes verboten. Sabine-Brigitte Müller las aus Kästners Gedicht „Sergeant Waurich“, in dem der Autor und Antimilitarist seiner Erbitterung über die Brutalität in seiner Ausbildung am deutlichsten Luft macht, zumal er sich durch den harten Drill seines Ausbilders „Waurich“ eine lebenslange Herzschwäche zuzog. Müller rezitierte: „Und wer schon auf allen vieren kroch, dem riss er die Jacke auf und brüllte: Du Luder frierst ja noch! Und weiter ging‘s. Man machte doch in Jugend Ausverkauf…“

Almuth Wessel, die Initiatorin der Gütersloher Veranstaltungsreihe „Lesen gegen das Vergessen“, trug mehrere Gedichte der in Galizien (Österreich-Ungarn) geborenen Dichterin Mascha Kaléko vor. Die Lyrikerin, die auf einem nachvollziehbar hohen Niveau Verse schmiedete, verfasste zum Jom-Kippur-Fest 1942 das Gedicht „Kaddisch“. „Rot schreit der Mohn auf Polens grünen Feldern, in Polens schwarzen Wäldern lauert Tod. Verwest die gelben Garben. Die sie gesät, sie starben. Die bleichen Mütter darben. Die Kinder weinen: Brot.“ Kalékos Dichtkunst ist bildlich gut zu verstehen und verweilt nicht im Experimentierfeld der Avantgarde.

In ihrer Rolle als Moderatorin leitete Almuth Wessel zum Werk der deutsch-schweizerischen Kinderbuchautorin Lisa Tetzner über. Sechs Schülerinnen der Janusz-Korczak-Gesamtschule lasen aus Tetzners Buchreihe „Die Kinder aus Nummer 67“. Die literarische Odyssee, in der die jungen Protagonisten eines Berliner Mietshauses wie Pech und Schwefel zusammenhalten, beginnt 1931 und der Inhalt wirft ein positives Licht auf die heranwachsenden Menschen, die sich gegen Krieg und Diktaturen zu wehren wissen. In die Rolle der auktorialen Erzählerin schlüpfte Elisa, die beeindruckenden Dialoge führten Ayla, Stella, Clara, Aleana und Honya. Da diskutiert ein Junge mit einem älteren Mann: „Sie meinen also, wenn wir zu viele Kanonen machen, haben wir nicht mehr genug Brot zu essen. Glauben Sie denn nicht, dass Krieg und Kanonen viel wichtiger sind als Schokolade? Denn wer die meisten Kanonen hat, kann den anderen alles wegnehmen“. – 1938 wurde Lisa Tetzner von den Nationalsozialisten aus Deutschland ausgebürgert.

Eine dramatisch-szenische Ausdeutung erhielten die Inhalte des „Flugblatts Nr. VI“ der Widerstandsbewegung der „Weißen Rose“, eine der wohl bekanntesten deutschen Widerstandsgruppen in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors. Nico Dallmann zitierte den kompletten Text, der mit den Zeilen beginnt: „Kommilitoninnen! Kommilitonen! Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigen Machtinstinken einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr.“ – Die Geschwister Sophie und Hans Scholl sowie Christoph Probst wurden vom Volksgerichtshof unter der Leitung des sogenannten Blutrichters Roland Freisler zum Tode verurteilt und bereits vier Tage nach ihrer Verhaftung hingerichtet.

Zum akustisch untermalten Ausklang zupfte Patrick Lück an den Saiten seiner Gitarre und zog alle Stimmband-Register. Er interpretierte das Lied „The Green Fields of France“, das den Originaltitel „No Man’s Land“ trägt und auch als „Willie McBride“ bekannt ist. Es wurde 1976 vom schottisch-australischen Singer-Songwriter Eric Bogle geschrieben und beschreibt die Gedanken eines jungen Mannes, der im Ersten Weltkrieg fiel.

Der Autor Jan Weiler sagte anlässlich des 90. Jahrestags in einem Interview: „Bücher haben einen unfassbaren Wert, weil sie Freiheit der Gedanken für uns aufbewahren und von der Möglichkeit des Seins berichten. Bücher haben einen Sinn. Die Sinnhaftigkeit und das damit verbundene freigeistige Denken stehen dem Faschismus entgegen.“

Lesen gegen das Vergessen 2022

Ein besonderer Leseabend mit aktuellen Bezügen und Erinnerung an die Bücherverbrennungen 1933.

„Lesen gegen das Vergessen“ ist ein wichtiger Bestandteil der städtischen Erinnerungskultur. 2019 von der Journalistin Almuth Wessel ins Leben gerufen, sollte diese Reihe an die Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten im Mai 1933 erinnern. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine war jedoch der Blickpunkt auch auf die aktuelle Situation gerichtet. Ein Zeichen zu setzen gegen Hass, Ausgrenzung, Verfolgung und Drangsalierung, aber auch an Flucht oder Angst zu erinnern, war das Ziel des diesjährigen, von Sigmund Bothmann an der Orgel untermalten Leseabends in der Martin-Luther-Kirche.

Im Mittelpunkt der Gedenkveranstaltung am Freitagabend standen deshalb Berichte von Zeitzeugen mit ähnlichen Schicksalen, wie sie heute die Menschen im Osten Europas erleiden müssen. Duglore Döbler, selbst ein Flüchtlingskind, das seine Heimat im heutigen Tschechien am Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen musste, begann mit eigenen Erlebnissen aus ihrer Kindheit. Dabei berichtet die Autorin über ihre erste kindliche Liebe zum jüdischen Nachbarjungen Abraham Schön, dessen Schicksal im Holocaust und über den Hass der Roma Friderieke auf ihren Verräter aus der SA und wie sie ihn überwinden konnte.

Die Tagebücher von Anne Frank, des späteren Abgeordneten der DDR-Volkskammer Victor Klemperer und der Schriftstellerin, Politikerin und Frauenrechtlerin Anna Haag bildeten das Herz der diesjährigen Lesung. Barbara Best, Volker Schiewer und Almuth Wessel betrachten in diesen Kriegsaufzeichnungen das Leben in einer ungewissen Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Dabei werden Erfahrungen und Schicksale von gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen lebendig, die einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt sind. Steht in den Abschnitten aus dem Oktober 1942 noch die Frage des Überlebens im Vordergrund, so wächst zunächst die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende nach der Invasion der alliierten Truppen in der Normandie, weicht aber bald der Skepsis über ein nahes Kriegsende nach dem fehlgeschlagenen Attentat auf Hitler im Juli 1944.

Zwei Erzählungen von Fyodor Dostoyevsky, in denen er seine Weltanschauung der Güte und des Mitleides verdichtet hat, ergänzen das Leseprogramm. Ludger Funke vom „Forum Russische Kultur“ gelingt es dabei dank seiner ausdrucksstarken Betonung, die Zuhörer mit den Zitaten aus „Traum eines lächerlichen Menschen“ anzurühren. Bis zum Schlussakkord, den Almuth Wessel mit einem Text der Ukrainerin Rosa Marusenko setzt: „Hinter den Feldern fliegen die Kugeln über den Köpfen,“ zitiert sie aus deren Gedicht „Kriegslandschaft 2022“.

Lesen gegen das Vergessen 2021

Gütersloher (Glaubens-)Gemeinschaften präsentieren das Lesen gegen das Vergessen 2021

Im Jahr 2021 findet zum dritten Mal am Jahrestag der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten am 10. Mai die Aktion „Lesen gegen das Vergessen“ statt. Der Beitrag zur Erinnerungskultur wurde vom Fachbereich Kultur der Stadt Gütersloh in Kooperation mit Initiatorin Almuth Wessel sowie der Gütersloher Volkshochschule und der Stadtbibliothek organisiert. Da es Coronabedingt keine Live-Veranstaltung geben konnte, wurde die Lesung in der Martin-Luther-Kirche aufgezeichnet.

Die Lesung stand unter dem Motto „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Engagierte Bürgerinnen und Bürger traten vor das Mikrofon, um an verbrannte und verfemte Autoren und Autorinnen zu erinnern. Das Anliegen der Lesenden war es, die Erinnerung an eine lange jüdische Kulturtradition zu beleben, die ungeheuer befruchtend auf das gesellschaftliche Leben in Deutschland gewirkt hat. Jedoch immer wieder verstellt wird durch die Erinnerung an die Reichspogromnacht und die Shoah.

Zu Gehör kamen deshalb nicht nur Texte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern etwa auch Heinrich Heine, der in seinem Romanfragment „Der Rabbi von Bacharach“ einen Kontrapunkt setzt zu der von den Romantikern heraufbeschworenen Rheinidylle. Daneben fand sich der Auszug aus einer der ältesten Autobiografien: Die Händlerin Glickel von Hameln schrieb ihre Lebenserinnerungen im 17. Jahrhundert für ihre Enkelkinder ursprünglich auf Jiddisch. Das Buch wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Begründerin der jüdischen Frauenverbände, Bertha von Pappenheim, ins Hochdeutsche übersetzt. Lion Feuchtwanger wiederum beschrieb in seinem Roman „Jud Süß“ die Situation der Juden im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig wurde mit einem Text der jüdischen Bloggerin Juna Grossmann der Bogen jüdischer Kultur in Deutschland bis ins 21. Jahrhundert geschlagen.

Zu der Lesung hatte sich eine große Bandbreite von auch jugendlichen Vertreterinnen und Vertretern der in Gütersloh ansässigen (religiösen) Gemeinschaften für die Vorträge zusammengefunden: die Evangelische Kirchengemeinde, der Pastorale Raum, das Islamische Zentrum, die Aramäische und Jesidische Gemeinde, sowie die jüdische Kultusgemeinde Bielefeld, welche auch für Gemeindemitglieder in Gütersloh zuständig ist. Die Aktion wurde musikalisch begleitet und unterstützt von Kirchenmusikdirektor Sigmund Bothmann.

Am 10. und 11. Mai wurden zudem erstmalig mit Motiven des Festjahrs „1700 Jahre jüdisches Leben“ das Rathaus, die Stadthalle sowie Gebäude weiterer beteiligter Institutionen beflaggt. Dies ist eine Aktion der Initiative „Kölner 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ mit Unterstützung des Deutschen Städtetags. Weitere Veranstaltungen im Rahmen des Festjahrs werden in den kommenden Monaten folgen und vom Fachbereich Kultur begleitet.

Lesen gegen das Vergessen 2020

Ein Podcast während Corona

Im Jahr 2020 hätte die Veranstaltung am 9. Mai in der Martin-Luther-Kirche stattgefunden. Aufgrund der damaligen Corona-Situation wurde entschieden, dass die Veranstaltung als Podcast durchgeführt wird. So konnten ab dem 9.05.2020 die verschiedenen Beiträge abgerufen werden.

Nachdem im letzten Jahr Ratsvertreter ausgewählte Texte gelesen haben, werden es in diesem Jahr unterschiedliche Menschen der Stadtgesellschaft sein, die vornehmlich Texte aus dem Bereich Jugendliteratur lesen.

Lesen gegen das Vergessen 2019

Erste Veranstaltung – Ratsmitglieder lesen

Im Jahr 2019 fand „Lesen gegen das Vergessen“ am Samstag, 11. Mai erstmalig in der Martin-Luther-Kirche, zur Erinnerung an den Tag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, statt. Ratsmitglieder aus allen Fraktionen traten dabei vor das Mikrofon.

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